Die Rettung eines Sozialdienstes 

Bild Daniel Röthlisberger

Daniel Röthlisberger

Geschäftsführer 

Noch vor einem Jahr sah es für den Sozialdienst Riggisberg düster aus: In relativ kurzer Zeit waren dem Dienst wesentliche Ressourcen wie qualifiziertes Personal, fachliches Wissen und Führung abhanden gekommen. Mit Hilfe kooperativer Massnahmen und externer Unterstützung konnten die Verantwortlichen den Sozialdienst reorganisieren und neu positionieren.

Eine exemplarische Geschichte

Um seine vielfältigen und anspruchsvollen Aufgaben bewältigen zu können, braucht ein Sozialdienst qualifiziertes Personal und viel fachliches Know-how. Jedoch nicht nur: Zunehmend sind auch Ressourcen und Fähigkeiten wichtig, die auf der Ebene der Organisationsentwicklung und des Managements angesiedelt sind. Es braucht eine Vision, strategische Klarheit und darauf abgestimmte operative Massnahmen.

Dies zeigt sich exemplarisch an der Geschichte des Regionalen Sozialdienstes Riggisberg. Lesen Sie im ersten Teil des Beitrags, wie es dazu kam, dass dieser Dienst in Schieflage geraten ist und welche wesentlichen Schritte und Massnahmen dazu beitrugen, ihn wieder auf Kurs zu bringen. Ein Spoiler vorweg: Ohne Kooperation ging es nicht.

Martin Heiniger, 16.02.2023

Der Regionale Sozialdienst Riggisberg im bernischen Gantrischgebiet hat bewegte Zeiten hinter sich. Ein zerfallendes Team, überforderte und frustrierte Mitarbeitende und ungenügende strategische Steuerung brachten den Dienst in eine Abwärtsspirale. Vor einem guten Jahr war der Dienst an einen Punkt, an dem zunehmend die Substanz fehlte, um fachlich gute Arbeit zu garantieren. Das damit einhergehende schlechte Image erschwerte es, vakante Stellen mit qualifiziertem und erfahrenem Personal zu besetzen.

Im vergangenen Jahr gelang es den Verantwortlichen jedoch, das Ruder herumzureissen. Die Organisation wurde mit neuen, engagierten Mitarbeitenden Schritt für Schritt wiederaufgebaut und der Betrieb wieder in geordnete Bahnen geführt. Das ging indes nicht ohne Hilfe von aussen: Zum einen nahm das neue Team fachliche Unterstützung von Professionellen anderer Sozialdienste in Anspruch. Zum anderen wurde die Beratungsfirma «Tangente» beauftragt, den Dienst ad interim zu führen und zu reorganisieren.

Im Interview erzählen Daniel Röthlisberger, Geschäftsführer von «Tangente», und die Bereichsleiterin des Sozialdienstes Riggisberg, Kathrin Stalder, wie es der Sozialdienst geschafft hat, seine Geschicke wieder in die Hand zu nehmen.

sozialinfo.ch / Martin Heiniger: Daniel, du führst den Sozialdienst Riggisberg ad interim als mandatierte Person von der Firma «Tangente». Wie ist das zustande gekommen?

Daniel Röthlisberger: Das hat eine Geschichte, wie sie viele Dienste durchmachen. Nach der Pensionierung einer langjährigen Leitungsperson vor drei Jahren wurde jemand Neues für diese Funktion angestellt. Aufgrund von Entwicklungsstaus, die in solchen Diensten oft bestehen, kann es bei Mitarbeitenden zu Überforderungen kommen. Das ist auch hier so gewesen. Die neue Leitungsperson wurde wegen Überlastungssymptomen ziemlich bald krankgeschrieben. Daraufhin wurde ein bisheriger Mitarbeiter zum Stellenleiter befördert, der ebenfalls in eine Überlastungssituation kam. So stand der Dienst vor etwa einem Jahr mit einem stark destabilisierten Team da.

Kathrin Stalder: Für die verbliebenen Mitarbeiter*innen wurden die Arbeitsbedingungen dadurch immer schwieriger und die Stimmung verschlechterte sich zusehends. Als ich im Januar 2022 dazu kam, hatten deshalb viele von ihnen schon gekündigt. Aufgrund der Arbeitsmarktsituation konnten wir offene Stellen nicht mit erfahrenen Sozialarbeiter*innen besetzen. Stattdessen stellten wir junge Sozialarbeiter*innen an, die teilweise sogar noch in Ausbildung waren.

Wie hat sich das ausgewirkt?

Daniel Röthlisberger: Dass innerhalb von etwa einem Dreivierteljahr das ganze Team komplett ausgewechselt wurde, hat zu einem extremen Brain-Drain geführt. Da ist viel Wissen verloren gegangen.

Kathrin, genau in dieser schwierigen Zeit bist du zum Sozialdienst Riggisberg gestossen. Wie kam es dazu?

Kathrin Stalder: Ich bin jetzt 62 Jahre alt und habe viel Erfahrung mit der Arbeit auf Sozialdiensten. Ich hatte mir vorgestellt, bis zu meiner Pensionierung noch bei Sozialdiensten auszuhelfen. Ein früherer Arbeitskollege hat mich aufgrund meiner Erfahrung angefragt, in Riggisberg einzuspringen. Die Hoffnung war, diesen Dienst mit Unterstützung von aussen wieder auf Kurs zu bringen. Als ich dann vor einem Jahr angefangen habe, war die Kündigungswelle so weit fortgeschritten, dass ich schlussendlich die Leitung für die Bereiche KESB und wirtschaftliche Sozialhilfe (WSH) übernommen habe. Zusätzlich machte ich Fallführung, half mit, Abgänge zu kompensieren und unterstützte den Leiter bis zu seiner Kündigung.

“Meine Einschätzung ist, dass der typische kleinere bis mittelgrosse Sozialdienst gegenüber vergleichbaren KMUs fünf bis zehn Jahre im Rückstand ist.”

Daniel Röthlisberger

Hast du den Einbezug der «Tangente» initiiert?

Kathrin Stalder: Ja, zusammen mit dem damaligen Leiter. Aufgrund der vielen Abgänge und der schlechten Stimmung im Team war klar, dass wir Unterstützung von aussen brauchen. Der Einbezug der «Tangente» war ein Teil der Hilfe.

Daniel, die «Tangente» berät auch andere Sozialdienste. Ist Riggisberg ein Einzelfall oder gibt es andernorts ähnliche Probleme?

Daniel Röthlisberger: Aufgrund eines verbreiteten Mangels an strategischem Management gibt es in der Deutschschweiz viele Sozialdienste, die in einer ähnlichen Situation sind. Meine persönliche Einschätzung ist, dass der typische kleinere bis mittelgrosse Sozialdienst von der Entwicklung in Bezug auf Managementphilosophie und technische Applikationen gegenüber vergleichbaren KMUs fünf bis zehn Jahre im Rückstand ist. Dieser Gap muss aufgeholt werden. Da es um begrenzte personelle und finanzielle Ressourcen geht, die effizient eingesetzt werden müssen, sind Managementkenntnisse auch in Sozialdiensten eine notwendige Kernkompetenz. Ein Studium in Sozialer Arbeit reicht dazu nicht aus. Wenn gute Sozialarbeiter*innen in Führungspositionen befördert werden, benötigen sie deshalb entsprechende Weiterbildungen. Idealerweise müssten diesen Personen gleich 20 Stunden Coaching von einer erfahrenen Person vermittelt werden. Man könnte das über andere Sozialdienste organisieren oder eine Firma wie beispielsweise «Tangente» beiziehen. Das Wichtigste ist, sie nicht alleine zu lassen.

Was hat es in Riggisberg gebraucht, um den Sozialdienst wieder auf Kurs zu bringen?

Daniel Röthlisberger: Zuerst musste Verschiedenes aufgearbeitet werden, das längere Zeit brach gelegen war. So etwa das Pflegekinderwesen oder die Buchhaltung. Das konnten wir jetzt mit grossen Anstrengungen abschliessen.

Kathrin Stalder: Dabei ist es nicht so, dass vorher nichts gemacht wurde. Soweit ich es beurteilen kann, haben sich immer alle engagiert. Durch die Abgänge hat aber das Wissen gefehlt und das Personal war zunehmend überfordert.

Daniel Röthlisberger: In Riggisberg haben die Verantwortlichen jetzt verstanden, dass es nebst genügend Personal noch weitere Massnahmen braucht, um die Ineffizienz im System zu bekämpfen.

Eine Massnahme war, dass ihr euch Unterstützung vom Sozialdienst Steffisburg geholt habt. Wie kam das zustande?

Kathrin Stalder: Ich hatte Respekt vor dem, was als Bereichsleiterin WSH auf einem Dienst, der nicht gut funktioniert, auf mich zukam. Ich habe deshalb mit einer mir bekannten ehemaligen Bereichsleiterin des Sozialdienstes Steffisburg Kontakt aufgenommen, um mir Unterstützung zu holen. Daraus entstand ein Gespräch mit der aktuellen Bereichsleiterin des Sozialdienstes Steffisburg. Ich habe ihr unsere Situation geschildert und ihr erklärt, dass wir sechs junge Frauen in verschiedenen Bereichen – WSH, KESB, Admin – einarbeiten müssten. Wir wüssten noch nicht, wie wir ihnen die nötige Unterstützung geben könnten. Daraufhin hat uns der Sozialdienst Steffisburg angeboten, uns eine ihrer erfahrensten Mitarbeiterinnen für die Bereiche wirtschaftliche Sozialhilfe und Pflegekinderwesen zur Seite zu stellen. Der Gemeinderat hat uns dann grünes Licht gegeben für diese Zusammenarbeit. So konnte die Einarbeitung auf mehrere Schultern verteilt werden, und das war eine grosse Erleichterung.

“Der Gemeinderat hat verstanden, dass die Situation ernst ist.”

Kathrin Stalder

War die Gemeinde sofort bereit, diese Unterstützung zu finanzieren?

Kathrin Stalder: Ja, der Gemeinderat hat verstanden, dass die Situation ernst ist und ist deshalb froh um Vorschläge gewesen. Er hat uns vertraut und unterstützt, weil er gemerkt hat, dass da gute Möglichkeiten entstehen.

Wie selbstverständlich ist es, dass Sozialdienste ihr Wissen mit anderen teilen?

Kathrin Stalder: Es braucht schon Personen, die diese Offenheit haben. Da klar war, dass unsere Arbeitsabläufe viel zu kompliziert sind, habe ich den Sozialdienst Steffisburg, aber auch frühere Arbeitskolleg*innen angefragt, ob sie ihre Abläufe und Formulare mit uns teilen würden. Da haben wir viel Offenheit erlebt und Unterstützung erhalten.

Daniel Röthlisberger: Ein Dienst wie Riggisberg ist an sich zu klein, um wirklich effizient arbeiten zu können. Wir sind deshalb auf Kooperationen angewiesen. Ein klassisches Beispiel ist das Alimentenwesen. Wir können das hier nicht professionell machen, deshalb arbeiten wir mit Schwarzenburg zusammen. Sie machen das für uns, dafür haben wir für sie das Pflegekinderwesen übernommen.

Kathrin Stalder: Der Sozialdienst Schwarzenburg betreut mit der Prima-Fachstelle zudem unsere privaten Mandatstragenden.

Daniel Röthlisberger: Eine weitere Kooperation besteht auch mit dem Sozialdienst Münsingen.

Mit Steffisburg rechnet ihr nach Stunden ab. Wie werden die anderweitigen gegenseitigen Leistungen, etwa mit dem Sozialdienst Schwarzenburg abgerechnet?

Kathrin Stalder: Das ist richtig, die Zusammenarbeit mit Steffisburg ist von Dienst zu Dienst geregelt. Hingegen werden beispielsweise die Prima-Fachstelle und das Alimenteninkasso direkt mit dem Kanton abgerechnet. Da spielt es keine Rolle, welche Gemeinde die Aufgabe übernimmt.

Ein Dienst wie Riggisberg ist an sich zu klein, um wirklich effizient arbeiten zu können. Wir sind deshalb auf Kooperationen angewiesen.

Daniel Röthlisberger

Ist das Ziel der Gemeinde, nach Abschluss der Reorganisation eine neue Leitungsperson zu finden?

Kathrin Stalder: Ja, wir hoffen, bald jemanden geeignetes zu finden. Uns ist wichtig, dass diese Person gut ins Team passt und nebst der Leitung auch Fallarbeit übernehmen kann. Bei der Auswahl haben wir zum Glück Mitspracherecht.

Daniel Röthlisberger: Diese Suche ist anspruchsvoll. Kader zu finden ist im Sozialbereich momentan sehr schwierig. Deshalb ist man manchmal zu Kompromissen bereit. Das kann funktionieren, aber eben auch schief gehen.

Wie hat sich euer Reorganisationsprozess auf die Klientel ausgewirkt?

Kathrin Stalder: Dadurch, dass vieles länger brach gelegen ist, hatten die Klienten viele Freiheiten. Uns kam die unangenehme Aufgabe zu, die Klienten damit zu konfrontieren, dass wir sie nun wieder nach den üblichen Rahmenbedingungen behandeln. Das hat in manchen Fällen zu Irritationen geführt und brauchte eine gewisse Hartnäckigkeit von unserer Seite. Wir gaben den Betroffenen zu verstehen, dass wir es ihnen gönnen, dass sie teilweise mehr erhalten hatten, als ihnen zustand, dass wir uns aber bei unserer Arbeit an die geltenden Regeln und Gesetzen halten müssen. Wir haben auch Dossiers abgeschlossen, die ungerechtfertigterweise noch geführt wurden. Da dies viele Verfügungen nach sich zog, suchten wir juristischen Rückhalt, um uns abzusichern. Es gab auch schwierige Dossiers, bei denen wir die Unterstützung des Regierungsstatthalters einholten. Letztlich konnten wir alle Fälle klären.

Hinweis: Der zweite Teil des Interviews wurde am 02. März 2023 publiziert. Darin erfahren Sie unter anderem, wie der Dienst strategisch neu ausgerichtet wurde und was ihm geholfen hat, sein Selbstbewusstsein und ein Image als attraktiver Arbeitgeber zurückzugewinnen.